
Es war einmal …
… eine junge Karen, die sich zur Krankenschwester ausbilden ließ. Darauf folgte eine kurze Zeit der Stationsarbeit auf der Gefäßchirurgie bevor sie die Seiten wechselte und einige Zeit als Arzthelferin in einer ländlichen Hausarztpraxis arbeitete. Und dies ist kein Märchen, auch wenn die Story mit „es war einmal“ begann. All dies ist Teil meiner Biografie.
Gestern nun habe ich mit meinem erwachsenen Sohn telefoniert. Er war an dem Tag beim Arzt gewesen und so kam das Gespräch auch auf die manchmal undankbare Aufgabe der Medizinischen Fachangestellten, wie man die Arzthelferinnen und -helfer seit 2006 nennt. „Weißt du eigentlich, dass ich mal als Arzthelferin gearbeitet habe?“ fragte ich. „Ich weiß, dass du Krankenschwester gelernt hast, aber Arzthelferin – das wusste ich nicht“, lautete die Antwort.
Das brachte mich zum Nachdenken. Mein Leben umfasst unsagbar viele kleine und große Stationen. So viele Erlebnisse, so viele schöne Momente, soviel Schmerz. Und all das, die gesamte Sammlung dieser Ereignisse, haben mich geprägt. Sie sind Teil meiner Persönlichkeit in irgendeiner Form. Wenn ich mit anderen rede, ja selbst in meinen Handlungen, schwingen diese Erinnerungen und Erlebnisse irgendwie im Hintergrund mit, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Aber … mein Gegenüber weiß das nicht. Er weiß nicht, was ich alles in meinem Leben erlebt habe. Nicht mal mein Sohn, der viele Jahre seines Lebens in meiner unmittelbaren Gegenwart gelebt hat, wusste um diesen kleinen Teilaspekt des „Arzthelferin sein“ meines Lebens.
Nun kann man sagen, das ist unwichtig. Der andere muss es ja auch gar nicht wissen und dies ist natürlich irgendwie richtig. Aber ich glaube, dass es manchmal eine Hilfe sein kann, darüber Bescheid zu wissen, was mein Gegenüber erlebt hat. Weil es mich den anderen mit anderen Augen sehen lässt: mit Bewunderung, mit Erbarmen, mit Barmherzigkeit beispielsweise.
Nehmen wir zum Beispiel die Dame, der du beim Spaziergang mit deinem Hund Benno begegnest. Du grüßt sie freundlich, sie macht einen großen Bogen um dich und deinen Hund und beäugt deinen wunderbaren Fellfreund mit ängstlichen, argwöhnischen Augen. Dabei ist Benno ein ganz lieber Hund. Nun kannst du den Kopf schütteln über so viel Ängstlichkeit. Wenn du aber wüsstest, dass diese Dame vor Jahren von einem Hund so stark verletzt worden ist, dass es einen Krankenhausaufenthalt und viele Schmerzen nach sich zog, dann würdest du ihr mit mehr Barmherzigkeit begegnen.
So gibt es unzählige Beispiele dafür, wie manchmal ein bisschen Wissen um die Geschichte des anderen uns helfen kann, ihm mit mehr Verständnis zu begegnen oder auch mit Bewunderung für ihn.
Nun können wir die Kassiererin an der Kasse, die unfreundlich zu uns ist ja schlecht nach ihrer Lebensgeschichte fragen, aber vielleicht können wir ihr einen „Barmherzigkeitsblankoscheck“ ausstellen und ihr damit einfach von vorneherein zugestehen, dass sie heute vielleicht einen schlechten Tag oder mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.
Es würde die Welt auf jeden Fall zu einem barmherzigeren Ort machen.
Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist.
Lukas 6,36 ©Hoffnung für Alle