Blind oder doch nicht?

Heute wird das Mittagessen mal im Esszimmer serviert, nicht wie sonst in der Küche oder im Wintergarten. Wir sitzen uns also am Esstisch gegenüber – wir das sind mein Mann und ich – und unterhalten uns unter anderem darüber, wie schön es ist, dass das Rapsfeld, das vom Tisch aus zu sehen ist, schon beginnt gelb zu werden. Es sieht irgendwie beeindruckend aus, wie sich unter das ansonsten grüne Feld an einigen Stellen ein gelber Farbton mischt. „Da drüben ist ein Feld, das schon ziemlich gelb ist“, bemerkt mein Mann und zeigt in die entsprechende Richtung. Ich folge seinem Finger und mein Blick sucht den Horizont ab, jedoch vergeblich. „Ich sehe nicht, was du meinst“, erkläre ich. „Na, dort drüben!“ bemerkt mein Mann, etwas irritiert. Wieder streift mein Blick über die gesamte von ihm angedeutete Fläche. Nichts. Über so viel Blindheit kann mein Mann nur staunen, steht auf und sucht nun von meiner Seite aus das wunderbar gelbe Feld. Und siehe da, er kann es von meinem Platz aus auch nicht sehen.

Wie oft bin ich ungeduldig, verständnislos über die Blindheit des anderen und schüttle meinen Kopf über ihn. „Das muss er doch sehen“, denke ich. „Wie kann er nur“, urteilt es in mir. „Warum tut sie nur dies oder das“, weiß ich es besser. Und in meinem Unverständnis, meinem Ärger, meiner Besserwisserei übersehe ich vollkommen, dass der andere ein ganz anderes Sichtfeld hat. Er sieht das Leben nicht wie ich, weil sein Leben von anderen Erfahrungen geprägt ist, weil er andere Dinge in seinem Leben gelernt und verinnerlicht hat. Er oder sie hat nicht meinen Blickwinkel, kann und muss ihn auch nicht haben. Denn egal wie gut oder schlecht meine Sicht ist, der andere hat nun mal eine andere, die vielleicht genauso gut ist, nur eben anders. Wie viel barmherziger würde ich werden, wenn ich mir das immer mal wieder vor Augen führen würde. Wie viel mehr Verständnis hätte ich für das „Anders“ im Anderen. So wie mein Mann nach seiner veränderten Position auf einmal Verständnis für meine vermeintliche Blindheit hatte 😉.

 

 

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